Musik gegen den Krieg:
Valentin Silvestrov spielt in St.Gallen Werke, die er auf der Flucht komponierte
UKRAINE-KRIEG

Der Komponist Valentin Silvestrov spielt in der Lokremise St.Gallen im Konzert spontan selber seine neuesten Werke,
die auf der Flucht entstanden.
Bild: Benjamin Manser (St.Gallen, 7. Mai 2022)
Kann Musik etwas ausrichten angesichts des Krieges, der Gewalt, des Schreckens? Das ist schwierig, sagt Valentin Silvestrov. «Im Moment kann wahrscheinlich nur Kriegskraft etwas verändern.»
Der 84-Jährige sieht müde aus. Sorgenvoll. Das Konzert in der Lokremise in St.Gallen. Die vielen Gespräche. Fototermine. Interviews. Jeder möchte etwas von ihm, und sei es nur, ihm nach dem Konzert zu danken.
Silvestrov ist der bedeutendste ukrainische Komponist der Gegenwart. Er ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Komponisten überhaupt, sagt der ukrainische Pianist Antonii Baryshevskyi. Er sei glücklich, dass er vor Silvestrov selber dessen Werke spielen könne. Baryshevskyi lebt mit Sondergenehmigung in Amsterdam, spielt Konzerte in ganz Europa. Er sei an der Kulturfront im Einsatz, sagt er. Jetzt also ein ukrainischer Abend in St.Gallen.
Auf der Flucht hat er komponiert
Eineinhalb Stunden vor dem Konzert am Samstag kommt Valentin Silvestrov in die Lokremise. Seine Tochter und seine Enkelin begleiten ihn. Silvestrov betritt den Theatersaal, erblickt den Konzertflügel, schwarzglänzend, aufgeklappt. Ohne ein Wort steuert er auf den Flügel zu, setzt sich, beginnt zu spielen. Der Raum, dieser kahle, fremde Saal in einem fremden Land, füllt sich mit Klängen, mit Atmosphäre. Achtsamkeit breitet sich aus. Die Techniker, die die Streaming-Verbindung einrichten, arbeiten langsam, behutsam. Als vor dem Saal ratternd Geschirrwagen vorbeigeschoben werden, schliesst jemand die Tür. Eine intime Szene, der alte Mann am Klavier, versunken in seiner Musik. Es ist, als würden die Klänge aus ihm herausströmen. Als würde er sie im Moment erspüren.
In ihrer Berliner Wohnung gibt es kein Klavier, erzählt seine Tochter Inga Nikolenko. Ihr Vater habe eine Woche lang nicht Klavier gespielt. Die Stücke, die er jetzt intoniert, sind neu. Er hat sie noch nicht auf Notenpapier transkribiert.
Die «Elegie» habe er auf der Flucht im Auto komponiert, erzählt Inga Nikolenko. Während der ganzen Fahrt habe er mit den Fingern wie Klavier gespielt. Kaum in Sicherheit angekommen, setzte er sich ans Klavier. Auch die «Chaconne» und die «Pastorale» gehören zu diesem Zyklus. Die «Pastorale» strahlt Frieden und Fröhlichkeit aus, ihr Vater habe sie komponiert, als sie in Deutschland waren, in Sicherheit.
Warme, friedvolle Musik erfüllt den Saal. Niemand traut sich, den alten Mann am Flügel zu unterbrechen. Er ist eins mit der Musik, mit sich.
Tränen fliessen: Silvestrov spielt spontan vor Publikum
Dann das Konzert. Pianist Antonii Baryshevskyi spielt ausdrucksstark. Dynamisch, kraftvoll wie zerberstendes Glas, dann sanft perlend wie ein Sommerregen. Er verbeugt sich, gemeinsam mit Silvestrov. Da die Überraschung: Valentin Silvestrov setzt sich spontan an den Flügel. Er legt die Brille auf die Notenablage. Noten gibt es ja keine. Spielt die Stücke, die er auf der Flucht komponierte.
Berührend, wie Silvestrov Klänge dahintupft, als würden sie im Moment entstehen. Sachte, zögernde Töne, wie ein leises, hohes Rufen. Sanft schmiegt sich eine Melodie hinein.
Yulia Di Bella wischt sich Tränen aus den Augen. In der zweiten Reihe schnieft jemand. Da sitzt dieser alte, grosse Mann, der Musik lebt, der nie aus Kiew wegwollte, in St.Gallen, und spielt ein Konzert auf der Flucht. Spielt seine Musik, für sein Kiew. Mit einer Selbstverständlichkeit, als gehöre er einfach an diesen Flügel. Dieser Abend, er gehört Valentin Silvestrov.
Das «Lacrimosa» entstand wegen der Tötungen in Butscha
Später erzählt er, dass er, als er in St.Gallen ankam, nicht genau wusste, was ihn hier erwarte. Als er das Piano ausprobieren konnte, und es so schön klang, hat es ihn inspiriert, im Konzert selber zu spielen. Sein viertes Stück war ein «Lacrimosa», das wegen der Tötungen in Butscha entstanden ist. Ob der Krieg sein Komponieren verändert? Er habe dieses Stück nicht komponiert, antwortet Silvestrov. Das, was jetzt entsteht, komme von selber, entstehe von selber. Es ist ein Hall, es sind Widerklänge, die er hört, die er wahrnimmt, die aus ihm heraus entstehen, jetzt. Es sei eine feine Reflexion, der Geschehnisse, ein Widerklang aus der Ferne.
Angesprochen auf den Krieg in der Heimat, bricht es aus Silvestrov heraus. Die Übersetzerin kommt kaum hinterher. Silvestrov wandte sich als Komponist vor vielen Jahren dem Kleinen zu, will mit minimalistischer Musik dem Monumentalen in der Welt entgegentreten. Denn:
Auch das Christentum besage, dass man auf das Kleine achten solle, nicht lügen, niemanden umbringen, Gutes tun. Jeder Mensch, ob religiös oder nicht, verstehe das, und verhalte sich so. Doch wenn das erhoben werde ins Monumentale, ins Politische, dann werde plötzlich legitimiert, Schlechtes zu tun, zu töten. Das passiere derzeit in Russland. Plötzlich sei es in Ordnung, Dinge zu tun, die niemals denkbar waren.
«Das ist die Diskrepanz, die Dissonanz, in der wir uns jetzt befinden.»
Was derzeit passiere, was gewisse russische Politiker mit den Menschen machen – das könnten keine Menschen sein.
Ob er trotzdem hoffnungsfroh in die Zukunft schauen könne? Er hoffe auf eine Wende. Die ganze Welt stehe vereint, verurteile den Krieg. Irgendwie müsse doch bei einigen im Inneren aufgehen, dass es falsch sei, was derzeit geschehe. Alle leiden darunter, niemand profitiere. Der Krieg muss gestoppt werden. Es sei absurd, dass im Namen des Christentums Christen andere Christen umbringen. Putin müsse gestoppt werden. Auch von ganz oben.
Verbotene russische Zeitung streamt das St.Galler Konzert
Die Konzertreihe war lange geplant. Und obwohl sich die Umstände dramatisch geändert haben, es findet statt. Die St.Gallerin Yulia Di Bella organisiert mit dem von ihr gegründeten Verein Cosmokultur Konzerte, bringt ukrainische und Schweizer Musikschaffende und das Publikum in einen Austausch.

Verbotene russische Zeitung streamt das St.Galler Konzert
Das Konzert am Samstagabend in der Lokremise wird zum Benefizkonzert, am Eingang eine Spendenbox, für ukrainische Künstlerinnen und Künstler in Not. Der Theatersaal in der Lokremise ist fast bis auf den letzten Platz besetzt, knapp 120 Menschen sind gekommen. Das Konzert wird live gestreamt. Die Vize-Chefredakteurin der russischen Zeitung «Novaya Gaseta Europa», Katia Glikman, zeigt auf ihrem Handy die Zeitungshomepage: Sie übertragen den Livestream für ihre Leserinnen und Leser. In Russland wurde «Novaya Gaseta» verboten. Jetzt haben sie eine neue Zeitung gegründet, arbeiten online, verstreut in Europa.
Geflohen ist auch Komponist Valentin Silvestrov. Er wollte nicht fliehen, er wollte in Kiew bleiben. Er wollte, dass sich seine Tochter und seine Enkelin in Sicherheit bringen, erzählt er später. Doch sie wären nicht ohne ihn gegangen. Also kam er mit. Ein Enkel blieb dort. Vier Tage war Silvestrov mit Tochter und Enkelin auf der Flucht.